Das Jahr 1914 war mit dem Ausbruch des I. Weltkrieges
für Europa ein Schicksalsjahr. Wie viele andere
Deutsche verkannte und verharmloste Wilhelm Ostwald die politische Situation
beim Ausbruch des Krieges. Am 23. April 1914 berichtete Wilhelm Ostwald seinem
britischen Kollegen William Ramsay von seinem Engagement für die „Brücke“
und den „Monistenbund“, beides bereite ihm Freude, und noch
im Juli 1914 war er davon überzeugt, dass eine militärische Auseinandersetzung
nicht zu erwarten sei. Sein Sohn Walter
berichtet, dass sein Vater eine Erklärung des Kaisers zur drohenden
Kriegsgefahr im Juli mit den Worten kommentiert habe: „Wir leben seit
Jahren in einer kultivierten Welt. Krieg ist Unsinn und wird nie komme.“ [1].
Bis zum August
1914 trat Wilhelm Ostwald für die internationale wissenschaftliche
Zusammenarbeit ein und bekannte sich zu den Zielen der bürgerlichen
Friedensgesellschaften. Damit gehörte er zu den deutschen Naturwissenschaftlern,
die auf vielfältige Weise den internationalen Austausch von wissenschaftlichen
Ergebnissen förderten und in pazifistischen oder der Internationalität der
Wissenschaft verpflichteten Organisationen wirkten. Für seine Aktivitäten
nutzte Wilhelm Ostwald sowohl den Vorsitz des Deutschen Monistenbundes, als
auch die „Brücke –
Internationales Institut zur Organisierung der geistigen Arbeit" und die „Deutsche
Friedensgesellschaft“. Sein Engagement erstreckte sich vor allem auf
Vorträge und eine größere Zahl von Artikeln und auch größere Abhandlungen. So hielt er zwischen dem 19.
Februar und dem 22. Februar Vorträge in Hamburg und in Kopenhagen. In Hamburg
sprach er über Ernst Haeckel, in Kopenhagen zum Verhältnis von
Naturwissenschaft und Philosophie, über die Weltsprache und über die
Organisation der Wissenschaft. Ende April weilte Wilhelm Ostwald in Wien, er
trug am 30. April seine Ideen zu einer wissenschaftlichen Ethik vor und am 1.
Mai sprach er zu Wissenschaft und Technik der Organisation. Außerdem nahm Wilhelm
Ostwald am Pfingstkurs des Deutschen Monistenbundes teil, der Anfang Juni in
Jena stattfand und hielt mehrere Vorträge über „Organisation“. Wilhelm Ostwald musste auch
Misserfolge hinnehmen. Die „Brücke“ geriet durch das Missmanagement
der Geschäftsführer in finanzielle Schwierigkeiten und stellte im Juli 1914
ihre Geschäftstätigkeit ein und die von ihm gegründete und finanzierte Kolonie
UNESMA wurde Ende Januar aufgelöst. Nach dem Ausbruch des Krieges am 1. August waren
die internationalen wissenschaftlichen Verbindungen weitgehend unterbrochen.
Wilhelm Ostwald wandte sich deshalb mehr und mehr den Grundlagen einer umfassenden Lehre von den
Körperfarben aus ordnungswissenschaftlicher, physikalischer, chemischer,
psychologischer und physiologischer Sicht zu.
Die meisten
Wissenschaftler hielten es nach dem Kriegsausbruch für
ihre patriotische Pflicht, die Politik und Kriegsführung Deutschlands aktiv zu
unterstützen. Der vom Kaiser verkündete „Burgfrieden“ und
die den Krieg verherrlichende Stimmung lähmte vorerst alle Aktivitäten gegen
den Krieg. Statt der bisher gepflegten Kontakte kam es jetzt zu
Schuldzuweisungen, öffentlichen Bekenntnissen und organisierten Sammlungen von
Unterschriften, zu Aufrufen oder Gegenaufrufen. In welchem Maße auch Wilhelm Ostwald
der Propaganda Glauben schenkte, beweisen seine öffentlichen Bekundungen:
Deutschland sei das Opfer der Aggressoren Russland, Frankreich und England
geworden, sie hätten dem „Friedenskaiser“ den Krieg
aufgezwungen. Eine Niederlage wäre mit einer Vernichtung der deutschen Kultur
gleichzusetzen. „Der Kampf der
Barbarei gegen die Kultur, … den wir haben aufnehmen müssen …
findet das ganze deutsche Volk einiger und willensklarer denn je.“
[2]. Aus
Wilhelm Ostwalds persönlichen Aufzeichnungen geht hervor, dass er bereits am 6.
Oktober 1914 vor der Ortsgruppe des Monistenbundes in Hamburg einen Vortrag zum
Thema „Europa unter Deutschlands Führung“ hielt und zwei
Tage später dort über „Deutschlands innere Neugestaltung“
sprach. In einem Brief teilt Wilhelm Ostwald mit, dass nach dem deutschen Sieg ein vereinigtes Europa
unter deutscher Führung mit dem deutschen Kaiser als Präsidenten entstehen
werde [3]. Auch in den „Monistischen Kriegspredigten“
verfiel Wilhelm Ostwald mit seinen „Visionen“ dem Kriegstaumel.
In der Predigt „Europäisches
Gleichgewicht“ entwarf er ein Bild von der Organisation eines von
Deutschland beherrschten Europas. „… das künftige Gehirn Europas
kann aber nur Deutschland sein, weil nur Deutschland den Kulturbegriff der
Organisation voll erfasst und in die Wirklichkeit zu übersetzen begonnen
hat“ [4].
Am 4. Oktober 1914 erschien in allen
großen Tageszeitungen in Deutschland der Aufruf „An die Kulturwelt
!" Die 93 Unterzeichner, unter ihnen Wilhelm Ostwald, verteidigten die
deutsche Kriegsführung, um den Kriegsgegnern und den neutralen Staaten die
Möglichkeit zu nehmen, zwischen der deutschen Armee und der deutschen Kultur zu
differenzieren, denn das deutsche Volk hüte den „höchsten Besitz der
Menschheit“. Der „Aufruf“ galt aber im Ausland
bald als Beispiel für eine arrogante und naive Selbstüberschätzung der
deutschen Intellektuellen. Bereits am 17. Oktober 1914 erschien eine weitere
politische Bekenntnisschrift als „Erklärung der Hochschullehrer des
Deutschen Reiches“ mit mehr als 3000 Unterschriften. Den Krieg
rechtfertigten die Unterzeichner als Verteidigungskampf. Wilhelm Ostwald
unterzeichnete auch diesen Propagandatext. Am 15. Oktober 1914 teilte Wilhelm Ostwald in der
Zeitschrift „Das Monistische Jahrhundert“ mit, dass er als „intellektueller
Kriegsfreiwilliger“ einberufen sei und im Ausland Dienst tun werde.
Ende Oktober 1914 weilte er inoffiziell in Schweden und propagierte den
deutschen Standpunkt zur Kriegsschuld und den Kriegszielen. Sicher hat Wilhelm Ostwald mit seiner Kriegsbegeisterung
und dem „Patriotismus“ für die deutsche Kriegsführung seinem
wissenschaftlichen Ansehen und seiner moralischen Autorität sehr geschadet. Er
durchschaute den Versuch der politisch bedeutsamen Eliten, ihre Ziele als „patriotische“
zu bezeichnen, nicht.
[1] Ostwald Walter: Recollection
of Wilhelm Ostwald, my father. In: Journal Chemical Education 34 (1957), 7, S.
328-330.
[2]
Ostwald, Wilhelm: Die Forderung des Tages (Kriegspredigt) In: Monistische
Sonntagspredigten. 5. Reihe. Leipzig, 1916, S. 145-159, S. 159.
[3] Ostwald,
Wilhelm: Brief an Kapitänleutnant W. Zobel vom 28. 8. 1914, unveröff. (WOG
Großbothen).
[4] Ostwald, Wilhelm: Europäisches
Gleichgewicht (Kriegspredigt) In: Ostwald, Wilhelm: Monistische
Sonntagspredigten. 5. Reihe. Leipzig, 1916, S. 289-304, S. 304.